Der Transfer in die Volkssprache: das "buch des lebens" des Johannes Adelphus Muling

barbara sasse
2017-01-01

Abstract

Die Rezeption der Werke Marsilio Ficinos, zuvorderst seines De triplici vita, setzt in den deutschsprachigen Territorien bereits an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert ein und verortet sich in zwei unterschiedlichen Diskurstraditionen: Einmal dem gelehrt-künstlerischen Diskurs, dessen Träger in den Humanistenkreisen des Wiener Hofes (Cuspinian) und der süddeutschen Reichsstädte (Peutinger in Augsburg, Pirckheimer in Nürnberg) zu lokalisieren sind und in dessen Umfeld der berühmte Dürer-Stich „Melencholia I“ entsteht. Zum anderen der volkssprachlich-populärwissenschaftliche Diskurs, dessen materielle Basis die zuerst 1505 bei Johann Grüninger in Straßburg unter dem Titel Buch des lebens gedruckte deutsche Übersetzung des De triplici vita liefert; ihr Autor, der Straßburger Arzt und Humanist Johannes Adelphus Muling, besorgte außerdem 1507 für die Offizin Johann Knoblochs d. Ä. eine Edition von Ficinos De religione christiana. Die sechs Nachdrucke vom Buch des Lebens allein bis 1537 verweisen auf eine verlegerische Erfolgsgeschichte, die der These von der einschneidenden Unterbrechung der Ficino-Rezeption durch die Reformation eher zuwiderläuft. Tatsächlich markiert der sprachliche Transfer von Ficinos Werk allerdings dessen nachhaltige Umbettung in einen „heilpraktisch“-diätetischen Diskurs, der an die Tradition der spätmittelalterlichen Fachliteratur anknüpft und eine sukzessive, in der Überlieferungsgeschichte des Texts manifest werdende Ablösung des „fachlichen“ medizinischen Inhalts von den (neuplatonischen) philosophischen Konzepten mit sich bringt, die Ficinos eigenen therapeutischen Diskurs tragen. Das betrifft insbesondere die zentrale Melancholievorstellung, die in der deutschsprachigen Rezeption weitestgehend an die pathologischen Begriffe der „acedia“ oder „tristitia“ assimiliert wird. Als weiterer Resistenzfaktor gegen die Wirksamkeit von Ficinos Affektlehre erweist sich zudem die zeitgleiche Rezeption stoischen Gedankenguts, die im Zuge der Reformation nachhaltig gestärkt wird und schließlich in die akademische Neubegründung des Stoizismus mündet. Innerhalb der volkssprachlichen Literatur vollzieht sich diese Rezeption am Beginn des 16. Jahrhunderts an der Nahtstelle zwischen medizinischem und moraldidaktischem Diskurs; als wesentlicher Referenztext fungiert die deutsche Übersetzung von Senecas Sittlichen Zuchtbüchern (mit dem Schlüsseltext De ira), die 1536 wiederum in Straßburg erscheint. Über dessen Autor, den humanistisch gebildeten Arzt Michael Herr aus Speyer, einen Schüler des Leibarztes Maximilians I., Georg Tannstetter, lässt sich wiederum der Bogen zum Wiener Humanistenkreis und der dortigen Ficino-Rezeption zurückschlagen, gab Herr doch 1531 in Straßburg auf der Grundlage seiner Vorlesungsmitschriften Tannstetters Artificium heraus, das zum führenden Lehrbuch der medizinischen Astrologie seiner Zeit avancierte.
2017
978-3-447-10828-7
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